Die Kindheit bleibt

Nichts Vergleichbares käme an ihre Kindheit heran. Alles, was danach folgte, sei entweder Bestätigung, oder verblasste in deren Schatten. Somit bleibe die Verarbeitung der Kindheit ein Schlüsselthema der Künstlernatur.

So zumindest habe ich die Schriftstellerin und Nobelpreisträgerin für Literatur, Elfriede Jelinek, im Dokumentarfilm Die Sprache von der Leine lassen (2022), verstanden.

Es gibt verschiedene Arten, mit der Kindheit umzugehen. Sie zu verdrängen. Sie zu therapieren. Oder das Erlebte in Kunst umzuwandeln (eine kreative Form von Therapie). Genau das tut die Schriftstellerin Natascha Maier. Die Lesende fühlt sich ertappt und weiss, dass sie mit ihren Kindheitserfahrungen nicht allein ist.

Und doch: Beim Lesen kamen schmerzliche Erinnerungen hoch. Denn in Erinnerungen auf der Zunge geht es um die Erfahrung, anders zu sein. Ausgegrenzt zu werden, weil man, wie Maier, «von wo anders her kommt». Ausgrenzung geschieht grundlos. Ob man von wo anders herkommt, anders aussieht, oder was es auch immer sein mag. Ausgrenzung ist vernichtend. Jedes Kind und auch später jede Erwachsene kann nachfühlen, was es bedeutet, die einzige zu sein, die nicht an den Kindergeburtstag eingeladen wurde. Kann der Einsamkeit nachfühlen, die das Innere zerfrisst, mit der schrecklichen Gewissheit: Mit mit stimmt etwas nicht.

«Es folgten Nichteinaldungen zu Geburtstagen, (…) Schuldgefühle und die Ahnung nicht gut genug zu sein, nicht normal zu sein, nirgends dazuzugehören.»

Natascha Maier, Erinnerungen auf der Zunge, S. 16

Besonders eindrücklich auch die Szene, als die Autorin als Kind nach dem Mauerfall mit ihrer Familie von Kirgisistan nach Deutschland in ein Übergangslager kommt.

«Zum Essen mussten wir in einer Kantine Schlange stehen, diesen Akt fand ich sehr entwürdigen, er hinterliess bei mir den Eindruck, als müsste man für etwas betteln oder es sich verdienen.»

Natascha Maier, Erinnerungen auf der Zunge, S. 9

Scham hindert daran, sich frei zu entfalten. Sich selbst zu sein. Noch immer bereitet es der Autorin Mühe, in der Öffentlichkeit zu essen oder mit Menschen, die sie nicht gut kennt (S. 9). Ich kenne solche und ähnliche Erfahrungen. Das Gefühl, als Aussätzige, als Bettlerin durch die Welt gehen zu müssen, lässt einem in sich selbst verkriechen.

Was ist der Mehrwert solcher Erfahrungen in der Kindheit? Was ist der Mehrwert davon, wenn man ausgelacht und gemieden wurde und sich für sich selbst geschämt hat? Ich versuche, einige, nicht abschliessende Antworten zu geben. Der Weg zu sich selbst wird ungemein schwer. Sich zu öffnen, zu reden, nach aussen zu treten, mit vielen Ängsten verbunden: Werde ich auch dieses Mal abgelehnt? Für mich war ein Satz aus der Bibel prägend, um meine Kindheit in neuem Licht zu betrachten: «Ihr gedachtet mir zwar Böses zu tun; aber Gott gedachte es gut zu machen.» (Gen 50,20) Ja, die Erfahrungen sind ungerecht. Aber Gutes kann daraus entstehen, wie ein Phönix aus der Asche: Empathie für sogenannt «Andersartige». Nicht wegzusehen und zu schweigen, wenn Ausgrenzung und Gewalt vor den eigenen Augen geschehen. Menschen zuzuhören, deren Ideen sonst nicht gehört werden. Das hier ist nur eine kleine Aufzählung.

Natascha Maier schafft es in Erinnerungen auf der Zunge, Stille, Scham und Einsamkeit zu durchbrechen und ihre Erfahrungen durch eine prägnante Bildsprache für andere zugänglich zu machen.

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