WG-Besichtigungen können echt ätzend sein. Man begegnet einem Haufen wildfremder Menschen. Diese Beobachtungen können wiederum echt witzig sein. May I present: der Ethiker.

Disclaimer: Dieser Text dient lediglich zu Unterhaltungszwecken. Er entspricht allein meiner Wahrnehmung, die rein gar nichts mit der Realität zu tun hat. Vieles ist überspitzt. Und soll niemanden im echten Leben diffamieren. Deshalb sind Namen und Details abgeändert.

Der Ethiker. Ende Dreissig. Seinem Alter nach schon längst kein Student mehr. Sein ergrautes Haar lässt ihn noch älter erscheinen, als er in Wahrheit ist: Mitte vierzig. Und doch: Er sieht ganz eindeutig aus wie ein Student. Ein Akademiker. Ein Intellektueller. Sein langes, zu einem Rossschwanz gebundenes Haar, seine Brille und sein Alpaka-Woll-Pulli verraten ihn. Blick in sein Schlafzimmer: Eine Gitarre hängt an der Wand und ein Haufen Bücherregale.

Doch der Schein trügt: So ganz Student ist der Ethiker nämlich auch nicht, sondern: Doktorand. Also seinen Master hat er schon mal abgeschlossen, nachdem er zuvor zehn Jahre ohne Abschluss herumstudiert hat. Ein bisschen Anglizistik. Ein bisschen Philosophie. Ein bisschen Islamwissenschaften. Die alten Sprachen hat er auch noch so nebenbei gelernt, Latein, Hebräisch, Griechisch. Einfach weil es Spass macht, versteht sich. Doch jetzt befindet sich der Ethiker in Richtung Karriere. Die Besichtigung endet am Wohnzimmertisch, wo er mir gleich ganz nostalgisch seine Masterarbeit zusteckt. Thema: Befürwortung des assistierten Suizids. Auf dem Wohnzimmertisch liegt die Zeitschrift von exit. Bei der Organisation für Sterbehilfe ist er natürlich Mitglied. Der Ethiker hat Zeit. Er zündet sich eine Zigarette an. Im Wohnzimmer wird geraucht. Und holt gleich noch ein paar Bier. Am nächsten Morgen müsste er eigentlich früh aufstehen, und ich ahne, was das heisst. Obwohl ich eigentlich nicht trinke, mache ich mit. Nach dem zweiten Bier bin ich beschwipst. Und sichtlich begeistert von ihm und seinem Lifestyle.

Der Ethiker hört zu Ostern die Matthäus-Passion nach Bach. Ansonsten hat er’s nicht so mit der Religion. Aus der Kirche ist er ausgetreten. Seine Welt klingt nach ganz viel Akademiker-Glamour: ganz viel Freiheit, an seinen Publikationen rum zu schreiben. Feierabendbier mit Dozierenden, Profs und Kolleg:innen. Meine Äuglein werden immer grösser und ich freue mich schon auf zahlreiche Pyjama-Parties mit ihm, wo wir die Nacht durchmachen und über Gott und die Welt philosophieren, respektive theologisieren. Seine Mitbewohnerin meint noch: «Er kann Gitarre spielen», und meine Fantasie steigert sich ins Unendliche. Nur schade, dass sie auf den Brasilianer steht, der auch an der Besichtigung dabei war. Und auf L, an dem ich nichts Besonderes finde, aber sie scheint mehr etwas für die Männer übrig zu haben. «Schöne Menschen» seien wir, alle drei. Sie könne sich nicht entscheiden, wen nehmen. Obwohl sie die einzige Frau im Haus ist, und ich gedacht hätte, dass somit die Entscheidung deutlich auf mich fallen würde. Und der Ethiker? Der schweigt und stimmt somit zu, wie ein altes Sprichwort sagt.

Da der Ethiker eigentlich früh aufstehen muss, beschliesse ich, die beiden kurz nach Mitternacht zu verlassen. Der Ethiker umarmt mich. Der Alkohol und die Hormone pulsieren durch meine Adern: Schade fände ich es, wenn ich die beiden (eigentlich meine ich: den Ethiker. Auch wenn ich die Mitbewohnerin sehr sympathisch finde) nie wieder sehen würde. Der Ethiker meint noch: «Du weisst ja, wo wir wohnen.» Und umarmt mich nochmals. Ich lege nochmals einen drauf: «Ihr seid eine super WG (eigentlich meine ich damit: den Ethiker).» Der Ethiker ist sichtlich gerührt. Ihm entweicht ein «oooh», seine Hände bewegen sich Richtung Brustkorb, bevor ich raus in den anbrechenden Tag gehe.

Natürlich war alles eine Illusion. Wie immer. Der Ethiker steht gar nicht auf mich. Am nächsten Tag erhalte ich eine Absage mit der Abschiedsfloskel: «Mit freundlichen Grüssen».

Schreiben Sie einen Kommentar



Blog abonnieren

Loading